Freitag, 27. April 2012

Ein Gedicht aus dem Stundenbuch

Ja, um in meinen Regalreihen Rilke zu entdecken muss man nicht lange suchen und es ist schon längst Zeit dass ein Stückchen von ihm hier aufscheint. Wenn es nach mir ginge könnte in jeder Wendung, an jedem Gangende des Friedhofs ein unsichtbarer Murmler zu hören sein, der ein Rilke Gedicht aufsagt. Aber gut...stattdessen werden sie eben bis zum Eintreffen der Geistermurmler gelesen:

"Ich will dir Liebe geben. Die und die...


Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht,
wie du von mir ginst, Härte im Gesicht,
von seinen hülflos leeren Händen fort?
Legt man nicht leise sein verwelktes Wort
in alte Bücher, die man selten liest?
Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide
von seinem Herzen ab zu Lust und Leide?
Ist uns der Vater denn nicht das, was war;
vergangene Jahre, welche fremd gedacht,
veraltete Gebärde, tote Tracht,
verblühte Hände und verblichnes Haar?
Und war er selbst für seine Zeit ein Held,
er ist das Blatt, das wenn wir wachsen, fällt.


Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alb,
und seine Stimme ist uns wie ein Stein, -
wir möchten seiner Rede hörig sein,
aber wir hören seine Worte halb.
Das große Drama zwischen ihm und uns
lärmt viel zu laut, einander zu verstehn,
wir sehen nur die Formen seines Munds,
aus denen Silben fallen, die vergehn.
So sind wir noch viel ferner ihm als fern,
wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt,
erst wenn er sterben muß auf diesem Stern,
sehn wir, daß er auf diesem Stern gelebt.


Das ist der Vater uns. Und ich - ich soll
dich Vater nennen?
Das heiße tausendmal mich von dir trennen. [...]"*

* Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden. Erster Band.Frankfurt am Main: Insel Verlag 1966, S.131/32

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